Fragt man Musiker nach der größten Herausforderung beim Komponieren eines Songs, erhält man häufig eine wiederkehrende Antwort, hier beispielhaft zitiert von Brian Molko, Sänger und Kopf von Placebo und damit sowas wie der Chef-Melancholiker unter den britischen Rockstars: „Einen Song zu schreiben, der gleichzeitig fröhlich, aber auch tiefgründig und gehaltvoll ist. Ehrlich gesagt versuche ich mich daran schon seit 25 Jahren immer wieder, und mir ist noch kein einziges zufriedenstellendes Ergebnis gelungen. Was übrigens einer der Hauptgründe dafür ist, dass Placebo stets so melancholisch klingen. Denn im Grunde sind wir total fröhliche Menschen!“ Vielleicht sollte Molko sich mal um einen Praktikumsplatz im Songwriting-Camp seiner Landsfrau Gabrielle Aplin bewerben. Denn der 27-jährigen Sängerin und Gitarristin aus Bath ist dieses besondere Kunststück nicht nur einmal gelungen; sie hat vielmehr gleich ein ganzes Album mit solchen Songs aufgenommen. Jenes – es ist insgesamt ihr drittes und zugleich das erste seit ihrem bald vier Jahre alten PopGeniestreich „Light Up the Dark“ – hört auf den treffenden Titel „Dear Happy“ und erweist sich tatsächlich als eine Ausgeburt der guten Laune im leidenschaftlichen Tanz mit einer detailversessenen Kompositionskunst höchster Güte. Dabei war die Initialzündung für das Oberthema dieser hinreißenden Platte, die Mitte Januar erschien, alles andere als fröhlich: Alles begann mit Aplins Sehnsucht, in ihrem Kopf und Herzen einmal gründlich aufzuräumen und sämtliche Dämonen aus den dunklen Winkeln ihres Unterbewusstseins zu vertreiben – und währenddessen den gesamten Prozess in Form von Songs festzuhalten. Was anfangs wie eine Schnapsidee klang, geriet nach und nach zu einer regelrechten Besessenheit, wie Aplin erzählt: „Irgendwann bemerkte ich, dass ich mit dieser Platte dabei bin, einen Brief an mein eigenes zukünftiges Ich zu schreiben. Ab dem Moment habe ich alles daran gesetzt, ein Album zu machen, das mir in fünf Jahren nichts anderes erzählt als Schönheit, Hoffnung, Positivität – und ein lautes ‚Fuck you‘ an all meine Unsicherheiten und Sorgen. Und ich wünsche mir, dass diese Platte etwas Ähnliches für meine Hörer darstellt.“ Zugegeben: Das ist ein sehr ambitioniertes Ziel für eine Mittzwanzigerin, deren musikalische Karriere wie heutzutage üblich über das Videoportal YouTube in Fahrt geriet, wo sie vor etwa einem Jahrzehnt damit begann, akustische Coverversionen hochzuladen. Über Jahre folgte Cover auf Cover und Video auf Video, viele davon zig Hunderttausendmal angeklickt – bis ihr zu Weihnachten 2012 mit ihrer Interpretation des Frankie Goes to Hollywood-Klassikers „The Power of Love“ ein sensationeller erster Platz in den UK-Single-Charts gelang. Von diesem Moment an war Gabrielle Aplin kein YouTube-Geheimtipp mehr, sondern eine junge, aufregende und sehr gefühlvolle Musikerin, von der man schlicht Großartiges erwartet. Und sie lieferte: Zunächst mit „English Rain“ ihr noch stark am klassischen Folk orientiertes Debütalbum, das 2013 bis auf Platz 2 der UK-Charts kletterte. Zwei Jahre später folgte mit „Light Up the Dark“ ihr persönliches Manifest zum handgemachten Edelpop, wie ihn nur die Briten beherrschen – komplett allein von ihr geschrieben, getextet und eingespielt. Wie tiefschürfend und ambitioniert ihr generelles Interesse an Arrangement, Klangästhetik und facettenreicher Instrumentierung ist, belegen zahlreiche Zwischenschritte ihrer Studioarbeit in Form von separat veröffentlichten EPs, von denen seit 2010 jährlich eine erschien (mit Ausnahme von 2015). All diese Zwischenschritte und Exkursionen – von der leisen Pianoballade bis zum opulent orchestrierten Tränenzieher fürs große Theater – haben sich nun in den 14 Songs von „Dear Happy“ auf brillante Weise verdichtet. Mit diesem Facettenreichtum gelingt ihr etwas, was im modernen Konsumverhalten als ein immer mehr verschwindendes Phänomen betrauert wird: Dass man einem ganzen Album vom ersten bis zum letzten Ton sehr achtsam zuhört. Was wiederum die Aufmerksamkeit auf die Texte richtet, die für nicht wenige ihrer Hörer voraussichtlich geradezu therapeutische Zwecke erfüllen dürften. In einer Öffentlichkeit und Medienwelt, in der sich Stars gern damit brüsten, was sie alles Gutes tun, tut Gabrielle Aplin damit auf höchst subtile Weise das im Grunde genommen Allerbeste. Nämlich, andere dazu zu animieren, positiv zu denken, zu fühlen und zu handeln. Was für ein sprachlos machender „Nebeneffekt“ ihrer ganz persönlichen Dämonenjagd!
Gabrielle Aplin
Dear Happy Tour
14.04.2020 | Berlin – Privatclub
15.04.2020 | Köln – Luxor
Tickets: eventim
Pressenaterial: fkp scorpio | Foto: Louie Banks